GEW-Kundgebung gegen Grundschulöffnung in Hessen

23. Juni 2020  Bildung/Jugend

Am 19. Juni protestierten auf den Aufruf der GEW hin zahlreiche Lehrkräfte auf dem Königsplatz in Kassel unter dem Motto “Wir sind keine Versuchskaninchen!” gegen die ungeregelten Grundschulöffnungen in Hessen ab dem kommenden Montag

Hier zum Nachlesen die Rede von Lutz Getzschmann, die er als Vertreter der LINKEN, aber auch als Lehrer und Gewerkschafter gehalten hat:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

am Montag sollen hessenweit die Grundschulen wieder öffnen und ab 6. Juli startet der Regelbetrieb in den Kitas.
Vielleicht fällt es vielen Damen und Herren im Kultusministerium schwer, ihre Pläne und Absichten mit der Realität des Schulalltags abzugleichen. Ich habe es da etwas leichter, ich bin Lehrer an einer kooperativen Gesamtschule in der Kasseler Nordstadt und ich kann nur sagen: Uns fällt nun alles auf die Füße, was in den letzten Jahren und Jahrzehnten von Land und Schulträger versäumt wurde. Vor Beginn der Corona-Pandemie hatten wir an unserer Schule noch nicht mal Seifenspender und Toilettenpapier in den Schülertoiletten und warmes Wasser nur im Waschbecken im Lehrerzimmer.

Vieles wurde improvisiert und schnell beschafft, aber Hygieneregeln einzuhalten unter diesen Umständen, ist noch immer schwer. Geteilte Lerngruppen tageweise zu unterrichten, mag von den Gruppengrößen her eine neue und auch teilweise angenehme Erfahrung sein, aber es ist schon jetzt eine Herausforderung, den Unterricht abzudecken, wenn jede fünfte Kollegin und jeder fünfte Kollege zu einer Risikogruppe gehört und wir an sich vor Corona schon zu wenige waren. Wie sollen das denn jetzt ab Montag die GrundschulkollegInnen im Regelbetrieb schaffen und dabei noch in vollen Klassen ohne Abstandsregeln im Klassenraum und ansonsten in eigener Verantwortung das Infektionsrisiko beherrschbar halten? Das ist unmöglich und setzt SchülerInnen und Lehrkräfte Gefahren aus, die letztlich unkalkulierbar sind.

Nun sehen wir auch die Konsequenzen jener unsäglichen Debatte, die in den letzten Wochen medienwirksam von BILD und anderen um die Frage geführt wurde, ob Kinder ein geringeres Ansteckungsrisiko haben als Erwachsene. Alle verfügbaren praktischen Erfahrungen – und man muss tatsächlich kein Virologe sein, um das einschätzen zu können – sagen: Nein, wahrscheinlich nicht. Kinder, auch wenn sie seltener Krankheitsanzeichen zeigen, können trotzdem infiziert sein und den Virus genauso verbreiten wie Erwachsene. Eine Ansteckung bei pädagogischen Tätigkeiten ist daher, trotz aller hygienischen Maßnahmen vor Ort, eine ganz reale Möglichkeit. Und mehr noch: Gerade, weil junge Menschen eher keine oder nicht so stark ausgeprägte Krankheitsanzeichen aufweisen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine Ansteckung erst sehr spät entdeckt wird.

Wenn das aber so ist, dann muss man sich doch fragen: Warum machen die das dann eigentlich trotzdem und riskieren neue Corona-Hotspots rund um Schulen und Kitas, in einer Situation, in der zwar vordergründig die Infektionszahlen sich abgeflacht haben, untergründig aber das Infektionsgeschehen weiterläuft und die meisten, die es jetzt trifft, sich eben nicht testen lassen, weil sie persönliche Nachteile oder gar, wie auch schon geschehen, den Jobverlust befürchten? Warum werden Lehrkräfte, SchülerInnen und letztlich auch deren Familien einem solchen Risiko ausgesetzt? Und warum ausgerechnet die Grundschulen?

Und wie auch immer man es dreht und wendet, man kommt irgendwann zu dem Schluss, dass es eigentlich nur darum gehen kann, dass Grundschul- und Kita-Kinder eben die betreuungsintensivsten sind, die nach der Schule eben nicht mal ein paar Stunden alleine zu Hause verbringen können, während die Eltern arbeiten. Weil die Notwendigkeit für überwiegend berufstätige Eltern, ihre Kinder zuhause zu betreuen, ein mächtiges Hindernis für das Wiederhochfahren der Wirtschaft darstellt, darum geht es im Kern!

Der Gesundheitsschutz der Bevölkerung – und darüber muss man sich in aller illusionslosen Härte im Klaren sein – steht eben nicht mehr im Vordergrund, sondern die Produktions- und Reproduktionsbedingungen einer in die Krise schlitternden kapitalistischen Ökonomie und das konnten auch schon in den letzten zwei Monaten alle mitbekommen, die in den Medien verfolgt haben, welcher Tenor denn da vorherrschte und welche Hauptsorgen da geäußert wurden.

Und zur bitteren Wahrheit gehört eben auch, dass Corona eine Klassenfrage ist. Am Anfang traf es die Ischgl-Urlauber und Kreuzfahrtpassagiere aus dem mittleren und gehobeneren Angestelltensegment. Die sitzen inzwischen im Homeoffice und stellen fest, dass Heimarbeit und Homeschooling sich nicht immer gut miteinander kombinieren lassen. Während ein erheblicher Teil der an allen möglichen Orten neu aufflammenden Infektionsherde Menschen aus Flüchtlingsunterkünften und subproletarischen Hochaussiedlungen trifft und besonders dort, wo große Zahlen von Beschäftigten in meist prekären Verhältnissen arbeiten: in der Leiharbeit, in Fleischfabriken, bei Paketdiensten und Logistikzentren.

Auch hier, wie im Schulsystem, tritt nun der ganze Wahnsinn eines entgrenzten Ausbeutungsregimes zutage, für das vor mehr als 15 Jahren mit der Agenda 2010 ein breiter Niedriglohnsektor weitgehend gewerkschaftsfreier und entrechteter Arbeit geschaffen wurde. Und genau diese KollegInnen können es sich nun nicht leisten, bei einem positiven Testergebnis mitsamt ihren Kontaktpersonen zwei Wochen in Quarantäne zu gehen, für die Schließung ganzer Betriebsteile verantwortlich gemacht zu werden und am Ende ohne großes Aufhebens durch irgend eine andere austauschbare Arbeitskraft ersetzt zu werden. Und deshalb lassen sich viele potentiell Betroffene nicht testen.

Damit die Wirtschaft wieder läuft, müssen auch Schulöffnungen mit der Brechstange durchgedrückt werden, müssen erhöhte Infektionszahlen in Kauf genommen werden, das ist das Credo, nach dem verfahren wird. Und wir Lehrkräfte sind dafür nicht nur Versuchskaninchen, sondern das Kanonenfutter für die Interessen der großen Konzerne und jener Standortkrieger, die um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zittern.

Lassen wir uns das nicht bieten!

Statt unkontrollierten Schulöffnungen wäre jetzt die Zeit, sich sinnvoll auf die Krisensituation einzustellen.

Und das hießt kurzfristig:
Tägliche PCR-Tests für alle am Schulbetrieb Beteiligten;
– Masken nach FFP2-Standard für SchülerInnen und Lehrkräfte;
– Unverzügliche Tests von Schüler*innen und Kolleg*innen beim ersten Auftreten von Symptomen.

Und mittelfristig:

– Regelhaft deutlich kleinere Lerngruppen und mehr Personal an die Schulen;
– A13 für Grundschullehrkräfte und tarifliche Aufwertung der Berufe des Sozial- und Erziehungsdienstes;
– Schulgebäude und Lerninfrastruktur, die ein gemeinsames Lernen in menschenwürdiger Umgebung in und nach Corona ermöglicht.

Um das durchzusetzen, brauchen wir die Solidarität aller Schulformen und Professionen des Bildungssektors und darüber hinaus auch der SchülerInnen und der Eltern, der lohnabhängigen Familien.

Es ist unsere Arbeit, unsere Gesundheit und unser Leben!”