Neue Mehrheiten – altes Denken?

28. Mai 2020  Kommunales

Die rot-grüne Koalition ist Geschichte, seit im Dezember letzten Jahres der fraktionslose Stadtverordnete Andreas Ernst während der Haushaltsberatung seine Unterstützung aufkündigte.

Aufhorchen ließ der Tenor seiner Begründung: von „Basta-Politik“ war die Rede, von autoritärem Durchboxen einsamer Entscheidungen. Die Kritik richtete sich insbesondere gegen den Politikstil des Oberbürgermeisters. Und in der Tat hat Christian Geselle seit seinem Amtsantritt im Sommer 2017 kaum eine Gelegenheit ausgelassen, zu polarisieren. Bestehende Konflikte machte er zur Chefsache und verschärfte diese, indem er teilweise an den Gremien vorbei seine Entschlüsse über die Zeitung verkündete und Leuten damit vor den Kopf stieß.

Ob es die – seit dem Ausstieg aus dem „Kommunalen Schutzschirm“ – so gar nicht mehr statthafte eigenmächtige Kürzung des beschlossenen Haushalts im Rahmen der sogenannten „Haushaltsbewirtschaftung“ war, der über Nacht angeordnete Abbau des Obelisken auf dem Königsplatz, die von ihm mit Zuckerbrot und Peitsche gegen einen erheblichen Teil der Marktbeschicker durchgepaukte Sanierung der Markthalle durch ein von ihm handverlesenes Konsortium oder die inmitten der Corona-Pandemie mit Getöse zelebrierte Gründung einer städtischen Hilfspolizei mit rechtlich fragwürdigen Befugnissen: OB Geselle liebt es, sich als Anpacker und Macher zu inszenieren, der sich gegen Kritiker und Widerstände durchsetzt und dabei ohne Rücksicht auf Verluste mit dem Kopf durch die Wand geht.

Immer an seiner Seite dabei steht der SPD-Fraktionsvorsitzende Patrick Hartmann, der stets bemüht ist, jeden der abrupten Schwenks seines offenbar beratungsresistenten Rathauschefs mitzumachen. Nach einem entsprechenden Wutausbruch Geselles vor einem Jahr erklärte dieser die Rathauskoalition mit den Grünen für beendet, woraufhin beide dann allerdings von der ausnahmsweise mal nicht devot hinterhertrabenden SPD-Stadtverordnetenfraktion zum Zurückrudern gezwungen wurden. Nachdem die Mehrheit nicht mehr da ist, um weiterhin stoisch die eigene Linie durchzuziehen, müsste nun langsam ein etwas konzilianterer Politikstil Einzug halten, Gespräche geführt und Kompromisse gesucht werden. Und dies umso mehr, als die bisherigen Koalitionspartner inzwischen weitgehend auf eigene Faust agieren und versuchen, im Vorfeld der in knapp einem Jahr stattfindenden Kommunalwahl ihr jeweiliges Profil zu schärfen. Die Grünen scheinen allmählich verstanden zu haben, suchen öfter als noch vor ein paar Monaten das Gespräch und signalisieren auch schon mal verhaltene Zustimmung zu einzelnen Anträgen der Kasseler Linken. Auch einige linkere Sozialdemokrat*innen wirken zusehends entkrampfter. Die von Geselle und Hartmann an der kurzen Leine geführte rechte Mehrheit der SPD-Stadtverordnetenfraktion hingegen scheint sich in einer Wagenburg zu verschanzen und ihr Heil darin zu sehen, selbst noch ohne eigene Mehrheit autoritär durchzuregieren als wäre nichts gewesen. Dass sie dabei in Ausschüssen auch Abstimmungsniederlagen riskieren, ficht sie nicht sonderlich an.

Sicherlich spielen dabei auch mentale Hürden eine Rolle: Einer SPD, die seit mehr als 70 Jahren in Kassel gewohnt ist, weitgehend uneingeschränkte Kontrolle über Magistrat und Verwaltung auszuüben, fallen die notwendigen Lockerungsübungen schwer, zumal inzwischen ein Großteil des aktiven Mitgliederkerns dieser Partei sich aus eben dieser städtischen Bürokratie rekrutiert und ihre ökonomische Basis auf der zusehends dahinschwindenden politischen und administrativen Macht im Verwaltungsapparat beruht. Dramatisch wird all das aber vor allem dadurch, dass gerade jetzt grundlegende Entscheidungen im Hinblick auf den sozial-ökologischen Umbau der Stadt zu treffen sind, die vor dem Hintergrund von Klimakatastrophe und ökonomischer Krise die Richtung vorgeben, in die die Stadt sich bewegt, um die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu bewältigen. Zumal in den letzten beiden Jahren auch in Kassel große neue soziale Bewegungen entstanden sind, die einen erheblichen Druck für eine radikale Neuausrichtung der Stadtpolitik erzeugen. Vor allem die Initiative Radentscheid und die Klimabewegung rund um „Fridays for Future“ und das „Klimaaktionsbündnis“ haben hier Maßstäbe verschoben und Akzente für einen klimagerechten und basisdemokratischen gesellschaftlichen Wandel gesetzt. Der Versuch des Magistrats, einen handzahmen und weitgehend machtlosen Klimaschutzrats zu installieren, um den Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist durchsichtig und zum Scheitern verurteilt. Auch OB und SPD werden sich vor dem Wind der Veränderung nicht wegducken können.

Abzuwarten bleibt, ob die Corona-Pandemie, die momentan alles überlagert, eine Zäsur wird, die dem angeschlagenen OB aus der Patsche hilft. Situationen wie diese nutzen in der Regel den Regierenden und begünstigen die Akzeptanz eines mit paternalistischer Geste zelebrierten Durchregierens – wenn das Personal an der Spitze sich nicht allzu plump anstellt. Die tiefgreifenden Verwerfungen und politischen Herausforderungen der letzten Jahre vom Tisch wischen kann sie allerdings nicht. Und spätestens in einem halben Jahr werden wieder bohrende Fragen gestellt werden, etwa nach Konzepten für die ÖPNV-, fahrrad- und fußgängerfreundliche Verkehrswende, nach der Zukunft der Energieversorgung, nach echten Antworten auf die tiefgreifende soziale Spaltung der Stadt.

Dieser Artikel von Lutz Getzschmann ist in der 32. Ausgabe der Linkszeitung erschienen.